(c) Andreas Klisch, Germany, 2021

 

Blog zum Neoliberalismus

 

Teil 1: Trumpismus und Neoliberalismus


Am 3. November 2020 war Wahltag in den USA.

Zur Wiederwahl stellte sich der damals amtierende Präsident Donald Trump. Sein Herausforderer war der frühere Vize-Präsident unter Barack Obama, Joe Biden.

Schon lange vor der Wahl war absehbar, dass eine der am meisten wegweisenden Wahlen in der Geschichte der politisch tief gespaltenen USA bevorstand. Monatelang verfolgte man nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt mit Spannung die Entwicklungen, besonders die Umfragewerte.


Diese Zahlen sprachen lange schon für den Herausforderer Joe Biden. Fast alle Meinungsforscher sahen für ihn einen relativ deutlichen Vorsprung zu Donald Trump.

Einige Zeit vorher hatte es dabei noch überhaupt nicht so ausgesehen. Trump konnte mit scheinbar guten Wirtschaftsdaten seit seiner Amtseinführung 2017 blenden. In den USA hat für gewöhnlich ein amtierender Präsident, der gute Wirtschaftsdaten vorweisen kann, die Wiederwahl schon fast in der Tasche.

Dann kam die weltweite Covid-19-Pandemie dazwischen. Den zwangsläufig folgenden schweren wirtschaftlichen Einbruch haben die Amerikaner dem Präsidenten nicht angelastet. Was sie ihm jedoch nachweislich angelastet haben, war sein erratischer Umgang mit der Pandemie. Etliche Umfragen während des Sommers 2020 zeigen, dass eine große Mehrheit der Amerikaner mit Trumps Umgang mit der Pandemie nicht einverstanden war. Als dann Trump sich auch noch selbst Covid-19 eingefangen hatte, gab es ein besonders starkes Abrutschen in seinen Umfragewerten. Dass er nicht imstande war, sich selbst und seine unmittelbaren Mitarbeiter im Weißen Haus, von denen ebenfalls etliche erkrankten, zu schützen - das Tragen einer Mund-Nasen-Maske ist seiner Meinung nach offenbar etwas für Weicheier - wurde ihm offensichtlich besonders übel genommen. Dass Trump in einer Pressekonferenz allen Ernstes darüber fabuliert hatte, ob es nicht sinnvoll sei, Desinfektionsmittel intravenös gegen Covid-19 zu spritzen bzw. sich vorbeugend mit UV-Bestrahlung zu behandeln, hat den auch nur halbwegs informierten Zeitgenossen ebenfalls nicht wirklich von Trumps Kernkompetenz überzeugt. Im Umkehrschluss: Trump hätte wahrscheinlich die Wahl im November 2020 nicht verloren, wenn er anders mit der Pandemie umgegangen wäre oder wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte.


Die Verschwörungstheorie von der angeblich gefälschten Wahl


Trump als seiner festen Überzeugung nach bester Präsident der USA seit Abraham Lincoln hätte es seiner Ansicht nach eigentlich verdient gehabt, dass sein Konterfei in Stein gemeisselt am "Mount Rushmore" im Denkmal zusammen mit den vier anderen berühmtesten Präsidenten verewigt würde. So mager allerdings nicht nur seine politische Erfahrung, sondern auch seine Allgemeinbildung und sein logisches Denkvermögen offensichtlich sind, so überspannt und unbeirrbar ist seine unerschütterlich hohe Meinung von sich selbst und seinen vermeintlich unfehlbaren und schier unbegrenzten Fähigkeiten. Es ist leider nicht bekannt, in welchen Zaubertrank Herr Trump als Kind hineingefallen ist, aber es muss sich schon um eine ganz besondere, geheimnisvolle und hochwirksame Substanz handeln, nach einem Rezept, das nur von Druide zu Druide weitergegeben wird. Keinesfalls war es etwa ausschließlich nur Diet-Coke. Sicherlich ist meine Kritik an der Person Trumps drastisch formuliert. Der sachliche Hintergrund dieser Kritik ist jedoch gegeben und kann wohl spätestens nach dem Anschlag auf das Capitol kaum noch wegdiskutiert werden. Dieser Mann kennt in seiner Selbstbeweihräucherung bis hin zum offenkundigen Realitätsverlust einfach kein Maß, er hat keinerlei Unrechtsbewusstsein, sodass hier nach meiner Auffassung schon einige überspitzte, sarkastische Anmerkungen gerechtfertigt sind. Trump, der von vielen psychologisch geschulten Menschen als typisch narzisstische Persönlichkeit beschrieben wird, ist jemand, der es für einfach undenkbar hält, dass er jemals verlieren könne. Jeder andere: ja, natürlich - aber doch nicht er.


Da es aber unbegreiflicherweise doch spätestens im Sommer 2020 anhand der Umfragewerte absehbar war, dass Trump die Wahl verlieren könnte, begann er schon lange vor der Wahl zu fabulieren, er könne die bevorstehende Wahl nur verlieren, indem ein massiver Wahlbetrug stattfinde. Schon da war im Grunde genommen klar, dass er bei einer verlorenen Wahl das Ergebnis nicht anerkennen würde.


Dabei fokussierten sich Trump und seine Anhänger auf die Briefwähler. Bekannt ist die Tatsache, dass Briefwähler zu einem sehr hohen Anteil die Demokraten wählen.


Es entstand dann bereits vor der Wahl die Verschwörungstheorie von der "gestohlenen Wahl" durch angebliche Manipulation bei den Briefwahlen und auch bei den Wahlmaschinen. Schon zu diesem Zeitpunkt hat Trump aber keine Anstalten gemacht, Anhaltspunkte zu benennen, die konkret seine Behauptung auf bevorstehende Wahlfälschung untermauert hätten, und er hat ebenfalls keine Maßnahmen einleiten lassen, die einem Betrug - so denn ein solcher tatsächlich bevorgestanden hätte - vorgebeugt und Mißstände rechtzeitig beseitigt hätten. Obwohl er hierfür sicherlich die Kompetenz gehabt hätte. Es blieb bei diffusen, nebulösen Andeutungen. Allein dieser Umstand zeigt die Unseriösität seiner Vorgehensweise.


In weit über 60 Gerichtsverfahren quer durch die USA bis hin zum obersten Gericht, dem Supreme Court, hat das Trump-Wahlkomittee mitsamt einem Hornissenschwarm hochbezahlter Anwälte es nicht geschafft, irgendeinen Richter wirklich durch Vorlage handfester Beweise von den Behauptungen zu überzeugen. Ebenso haben alle an der Durchführung der Wahlen beteiligten Fachleute inklusive Sicherheits- und EDV-Spezialisten wesentliche, den Ausgang der Wahlen nennenswert beeinflussende Unregelmäßigkeiten verneint. Trotzdem wird dieses Märchen von einer erschreckend großen Zahl von Amerikanern, vor allem der Trump-Anhänger, geglaubt.


In Teilen erinnert diese Verschwörungstheorie mich persönlich an etwas ganz perfides, womit es Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu tun bekam. Nämlich: die vielzitierte "Dolchstoßlegende". Englisch: "the rib-in-the-back legend". Auch US-Medien nehmen zum Vergleich oft Bezug auf diese Legende.


Ist der Vergleich berechtigt? - Vielleicht zu einem Teil.


Dolchstoßlegende in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg


Hierzu ein kleiner Exkurs in die Geschichte.

Die zentrale Lüge der sogenannten "Dolchstoßlegende" zum Ende des ersten Weltkriegs in Deutschland bestand in der Behauptung, Deutschland sei 1918 militärisch nie besiegt gewesen. Sondern "die Novemberverbrecher", "die Demokraten", "die Sozialisten" etc. seien "der kämpfenden Truppe hinterrücks mit dem Dolch in den Rücken gefallen" und hätten eigenmächtig den Kaiser zur Abdankung gezwungen, die Republik ausgerufen und vor allem angeblich völlig unnötig den Vertrag von Versailles unterschrieben - der wegen der für Deutschland ungünstigen Bedingungen dann von rechten Kreisen als "Schanddiktat" bezeichnet wurde.


Wie kam es dazu?

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. wollte aus Deutschland die führende europäische Hegemonialmacht machen. Deutschland trat in Konkurrenz insbesondere zum britischen Empire. Es ging um kolonialen Einfluss in Afrika, um wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft. Das vom früheren Reichskanzler Bismarck nach 1871 mühsam konstruierte deutsch-österreichisch-europäische Bündnissystem bekam ab der Jahrhundertwende immer deutlicher erkennbare Risse. Wofür die erratische Außenpolitik des Kaisers einer der auslösenden Faktoren war. Seine lockeren Dampfplaudereien wie: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" oder: "Viel Feind, viel Ehr" prägten leider den Zeitgeist. Die internationalen Spannungen stiegen, und 1914 genügte die Ermordung des österreichischen Thronfolgers als Zündfunke zur Auslösung eines europäischen und dann auch globalen Kriegs.


Von Anfang an überschätzte das Kaiserreich seine wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten. Jahrelang lieferte man sich einen aufreibenden, auf der Stelle tretenden "Stellungskrieg" in Nordfrankreich. Die Opfer auf allen Seiten waren gewaltig. Zunehmend auch für die Zivilbevölkerung. Allein in Deutschland starben während des ersten Weltkriegs rund 800.000 Menschen nur an Hunger. Sprichwörtlich war der sogenannte "Hungerwinter" 1916/17, wo es fast nur noch Steckrüben für die Nahrungsversorgung der Bevölkerung gab. Streikwellen und Unruhen folgten zwangsläufig. Deutschland war de facto eine Militärdiktatur, regiert durch die zwei einflussreichen obersten Militärbefehlshaber der "OHL" (Oberste Heeresleitung): Hindenburg und Ludendorff. Beide regierten strikt durch, oft am Kaiser vorbei, mit Erlassen und Dekreten bis auf Bezirksebene. Es nutzte nichts. Spätestens im Jahr 1916 war Deutschland wirtschaftlich und strategisch eigentlich bereits am Ende. Abseits der vermeintlich eleganten militärischen Pläne des Heeres zur Besetzung Frankreichs inklusive Durchmarsch durch das neutrale Belgien hatte die kaiserliche Marine von Anfang an keinen Plan und auch allein strategisch und militärisch ohnehin keine reellen Möglichkeiten, gegen die schon im Voraus absehbar gewesene britische Seeblockade in der Nordsee nennenswert etwas auszurichten. Die deutsche Marine war nicht nur materiell hoffnungslos unterlegen, sondern schon durch die geographische Lage - kein direkter Zugang der Flotte zum Atlantik - im nicht kompensierbaren geostrategischen Nachteil. Schon allein unter diesem Aspekt war für Deutschland eigentlich der Weltkrieg bereits verloren, als er überhaupt angefangen hatte.


Nachdem vor allem im Rahmen des zunehmenden US-amerikanischen militärischen Engagements in Frankreich die Aliierten ein nicht mehr übersehbares Übergewicht bekamen, wurde ab dem Frühjahr 1918 aus dem Stellungskrieg ein Bewegungskrieg - zu Ungunsten des deutschen Heeres. Der Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Sowjets (nach der russischen Oktober-Revolution 1917) verhinderte vielleicht eine viel frühere deutsche Niederlage, änderte aber nichts an der Gesamtsituation. Spätestens nach dem Durchbruch der Aliierten durch die sogenannte "Siegfriedstellung" in Nordfrankreich im September 1918 war das baldige militärische Ende Deutschlands absehbar. Unaufhaltsam rückten die Truppen in Richtung auf die Reichsgrenzen vor, alle weiteren Auffangstellungen wurden durchbrochen, im Oktober war fast ganz Belgien von den Briten besetzt, es drohte unmittelbar die Besetzung Deutschlands.

Es begannen politische Unruhen, die schließlich in der sogenannten "November-Revolution" mündeten. Ausgelöst von meuternden Matrosen der Marine in Kiel, weil die Marineleitung zu einer Zeit, in der die Niederlage Deutschlands praktisch bereits manifest war, die deutsche Hochseeflotte noch einmal zu einer Art Harakiri-Manöver gegen die britische Royal Navy ausschicken wollte.

Der OHL war völlig klar, dass der Krieg militärisch verloren war. Ein Waffenstillstand musste ausgehandelt werden. Klar war aber auch, dass die Bedingungen eines solchen Waffenstillstands für Deutschland äußerst ungünstig sein mussten. Klar war auch, dass für eine Fortsetzung der kaiserlichen Monarchie wegen der sich ausweitenden inneren Unruhen keine politische Möglichkeit mehr bestand.

Ebenfalls klar war, dass die Verhandlungsposition Deutschlands denkbar schlecht war. Bei Nichtannahme der Bedingungen drohte sofort eine militärische Besetzung Deutschlands durch aliierte Truppen, später 1923 gab es ja tatsächlich aufgrund ausbleibender Reparationszahlungen eine Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen.

Nun ging es um die Frage, wer die undankbare Aufgabe übernehmen sollte, den Waffenstillstand auszuhandeln.

In dieser Situation entwickelten Hindenburg und Ludendorff eine perfide Idee. Beide dachten nicht im mindesten daran, selbst die politische Verantwortung für das Desaster zu übernehmen. Das politische Andenken der glorifizierten Kaiser-Monarchie sollte ebenfalls so gut wie möglich hinübergerettet werden.

Hindenburg und Ludendorff zwangen den Kaiser zur Abdankung. Wilhelm II. ging direkt ins Exil in die Niederlande. Dann zwangen beide die neue parlamentarische Reichsregierung dazu, den Waffenstillstand auszuhandeln und damit die politischen Folgen zu tragen. Gleichzeitig setzten sie in Reden vor dem Offizierskorps, in Artikeln und später vor einem Untersuchungsausschuss die oben beschriebene Verschwörungstheorie vom "Dolchstoß gegen die kämpfende Truppe" in die Welt. Eine bewusste Lüge. Hindenburg hat selbst später um 1920 in seinen eigenen Memoiren zugegeben, dass Deutschland im Herbst 1918 militärisch am Ende war:

Wir waren am Ende! […] Unsere Aufgabe war es nunmehr, das Dasein der übriggebliebenen Kräfte unseres Heeres für den späteren Aufbau des Vaterlandes zu retten. Die Gegenwart war verloren. So blieb nur die Hoffnung auf die Zukunft.“


Wissentlich das Gegenteil in die Welt zu setzen, war ein brutaler Stiefeltritt gegen den Unterbauch der entstehenden deutschen Demokratie.


Die Verschwörungstheorie hatte schwerwiegende politische Folgen. Das Ansehen besonders Hindenburgs bei der deutschen Bevölkerung war ungebrochen. Ihm wurde leider schlicht und einfach so gut wie alles geglaubt. Er war nun einmal eine Art "Ersatzkaiser" und wurde auch 1925 Reichspräsident. Man trauerte der "guten alten Zeit" des biedermeierlichen Kaiserreichs nach, die nun für immer verloren war. Man verstand nicht, wieso das nun plötzlich so schnell alles zuende war. Die schwere wirtschaftliche Not mit Hyperinflation und Hungerkrisen tat ein übriges. In diesem Klima fiel so eine Verschwörungstheorie auf fruchtbaren Boden.


Von Anfang an hatte die Weimarer Republik das Problem einer mangelnden Akzeptanz in der Bevölkerung. In den "goldenen Jahren" 1925 bis 1929 gab es zwar einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, und die Deutschen begannen dann doch langsam, sich mit den Verhältnissen anzufreunden. Die demokratischen Parteien - vor allem Zentrum, SPD, DPD - hatten in dieser Zeit wachsende Zustimmung.


Der Börsenkrach an der New Yorker Wall Street im Oktober 1929 setzte dem ein jähes Ende. Eine globale Wirtschaftskrise war die Folge, durch die auch Deutschland schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Nazi-Ideologen hatten natürlich sofort den Sündenbock parat: "Die Novemberverbrecher", die Sozialisten, und vor allem: "die Juden" seien Schuld an allem und hätten Deutschland in die Not getrieben.


Die Dolchstoßlegende hat zum Aufstieg der rechten Parteien in der Wirtschaftskrise wesentlich mit beigetragen. Mit allen hinlänglich bekannten Folgen. Zusätzlich zu den rechten Parteien sorgte aber am linken Ende des Spektrums die KPD ebenfalls nach Kräften dafür, dass mit den Forderungen nach "Revolution, Umsturz und Klassenkampf" und durch Strassenschlachten mit der NSDAP die demokratischen Institutionen einem wachsenden Chaos und bürgerkriegsähnlichen Zuständen ausgesetzt waren. Der sowieso schwache Rückhalt der Bevölkerung in die Demokratie war rettungslos unterminiert. Den demokratischen Institutionen fehlte die Substanz zum Überstehen der Krisenzeit.


Zusätzlich hatte der Reichspräsident Hindenburg wenig bis gar kein Interesse daran, die Weimarer Republik vor dem Zugriff der rechten Kreise zu schützen. Hindenburg hat dem Zentrums-Kanzler Brüning vielleicht zu voreilig die weitere Unterstützung versagt und ihn damit zum Rücktritt gezwungen, wenn auch Brüning einige schwere Fehler begangen hat.

Die Weimarer Demokratie war damit am Ende. Nach kurzen erfolglosen Zwischenspielen der Kabinette von Papen und Schleicher wurde Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Ursprünglich sollte Hitler von anderen rechten Kräften in der Regierung "eingerahmt" und sein Einfluss damit abgeschwächt werden. Man hatte dann ganz schnell gesehen, wer hier wen "eingerahmt" hatte, und bereits ein halbes Jahr später war dann von der Demokratie und ihren Institutionen nichts mehr übrig.


Angeblicher US-Wahlbetrug 2020 - eine neue "Dolchstoßlegende"?


Passt die Dolchstoßlegende als Analogie zu der Verschwörungstheorie des angeblichen Wahlbetrugs bei der US-Wahl vom November 2020?


In meinen Augen nur teilweise.

Richtig ist, dass die Verschwörungstheorie vom "voter fraud", dem Wahlbetrug, der dem Präsidenten "die Wahl gestohlen" habe, ein in der Geschichte der USA beispielloser Vorgang ist. Die bereits seit vier Jahrzehnten zunehmende politische und gesellschaftliche Spaltung in den USA wird im gefährlichen Ausmaß verschärft. Insbesondere wird ganz bewusst das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen untergraben.

Die Stürmung des Capitols in Washington am 6. Januar 2021 durch einen aufgehetzten wütenden Mob ist ein böses Vorzeichen dafür, was diese Spaltung der Gesellschaft für Folgen haben kann.


Man darf aber den Trumpismus nicht schlankweg mit dem Faschismus gleichsetzen.

Richtig ist zwar, dass der Trumpismus starke anti-demokratische, autokratische Elemente enthält, an vielen Stellen sollen Bürgerrechte, Arbeitnehmerrechte, demokratische Kontrollen ausgehebelt werden.

Richtig ist, dass die Verschwörungstheorie vom "voter fraud" ein gewichtiges Element in der Rechtfertigungs-Welt der Trumpisten ist, womit ein Kampf gegen die vermeintlich degenerierten demokratischen Institutionen gerechtfertigt werden soll.

Richtig ist auch, dass es rassistische Komponenten im Trumpismus gibt.

Richtig ist, dass der Trumpismus eine tiefsitzende, wachsende Unzufriedenheit der Amerikaner mit den bestehenden Verhältnissen für sich auszunutzen versteht.


Jedoch fehlen viele wesentliche Elemente des NS-Faschismus, etwa u.a. der radikale Antisemitismus. Auch fehlt der Hang zur staatlichen Kontrolle aller Lebensbereiche. Im Gegenteil nimmt ja der Trumpismus für sich in Anspruch, den angeblich zu starken Staat zusammenstreichen zu wollen, Regulierungen abzubauen, in bester Tradition des Neokonservativismus eines Ronald Reagan.


Reagan hatte in den 80-er Jahren mit seinen Slogans von der "Freiheit" und "...Amerika wieder stark zu machen..." die Bürger massenweise hinter sich bringen können.


Dasselbe hat Trump 2016 mit seiner Wahl zum Präsidenten geschafft. Er hat versprochen, "Amerika wieder groß zu machen", "Make America great again", abgekürzt: "MAGA", die Aufschrift auf allen roten Käppis der Trump-Anhänger.


Offenkundig ist Trump ein waschechter Autokrat, der an vielen Stellen versucht hat, die amerikanische Demokratie auszuhöhlen. Trump hat aber die Stabilität der demokratischen Institutionen der USA weit unterschätzt. Auch hier geht der Dolchstoß-Vergleich an der amerikanischen Realität vorbei. Die Institutionen der USA sind - noch - unvergleichlich stabiler (und sowieso älter) als die deutschen Institutionen der Weimarer Republik. Das Bewusstsein über die Bedeutung der Institutionen und der Verfassung ist in den USA traditionell tief verwurzelt und lässt sich auch durch einen Trump nicht in wenigen Jahren aushebeln. Auch nicht in einer Corona-Krise. Im Gegenteil hat Covid-19 Trump wahrscheinlich die Wiederwahl gekostet.


Der Mob-Sturm auf das Capitol hat es zwar nicht allen, aber doch der Mehrheit aller Amerikaner vollends gezeigt, dass es einen "break-even" gibt, einen Punkt des "bis-hierhin-und-nicht-weiter". Eine große Zahl von Geschäftspartnern hat sich von Trump abgewendet, und nicht einmal die Deutsche Bank möchte nun so recht noch Geschäfte mit Herrn Trump machen. Was schon etwas heißen will, denn ansonsten war doch bisher gerade die Deutsche Bank überall dort an vorderster Front mit dabei, wenn es eine Gelegenheit gab, gepflegt mitten in die Skandale hineinzufahren.


Bemerkenswert ist, dass selbst Trumps Vice-President Mike Pence, ansonsten vorher immer gehorsam wie ein devotes Hündchen, trotz Trumps expliziter Aufforderung nicht dazu bereit war, während des Capitol-Riot die US-Verfassung zu brechen und die Unterschrift unter das endgültige, vom Wahlkomittee bestätigte Wahlergebnis zu verweigern. Meiner Ansicht nach hat Trump den Mob bewusst losgehetzt in der Hoffnung, dass Pence sich hiervon einschüchtern ließe und durch Verweigerung der Unterschrift einen Eklat verursachen würde. Selbst bei Pence saß aber das Bewusstsein über die Unantastbarkeit der Verfassung und der Institutionen so tief, dass es ihm völlig unmöglich war, dem ausdrücklichen Wunsch Trumps nachzukommen. Wofür Pence selbst dann vom Mob unmittelbar mit dem Tode bedroht wurde.


Die Legende von der gestohlenen Wahl hat Trump also nicht zum Ziel geführt. Seine politische Position ist meiner Ansicht nach hierdurch auch eher mehr geschwächt worden, als es der Fall gewesen wäre, wenn er sich auf die bekannten konservativen Positionen zurückgezogen und ansonsten ähnlich wie George W. Bush und andere Vorgänger einen durch Anstand und Zurückhaltung geprägten Abgang vom Amt hingelegt hätte. Zwar hat Trump nach wie vor eine große Zahl von Fans, aber gerade die letzte Zeit seiner Präsidentschaft hat zu einer weiteren Polarisierung geführt, und die Mehrheit der Amerikaner wird er wohl kaum jemals auf diese Weise wieder erreichen.


Zudem hat der Trump-Konzern erhebliche wirtschaftliche Probleme, und es sind gegen Herrn Trump diverse juristische Strafverfahren im Gange. Beim jetzigen Stand (Frühjahr 2021) ist vollkommen offen, ob er überhaupt noch einmal Gelegenheit bekommen wird, eine dominierende Rolle in der amerikanischen Politik zu spielen und etwa 2024 erneut als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Bisher scheint er noch weite Teile der Republikanischen Partei fest im Griff zu haben, aber aufgrund der programmatischen Zerstrittenheit der Partei scheint sogar eine Aufspaltung in den Bereich des möglichen zu rücken. Die politischen Folgen des von Trump auch nach seiner Abwahl veranstalteten Zerrspiels sind derzeit gar nicht absehbar. Es erscheint nicht unmöglich, dass das bisherige, lang tradierte amerikanische Zwei-Parteien-System zerfallen könnte.


Ob es also nochmal etwas wird mit "MAGA"? Make America Great Again?

Aber wieso braucht man eigentlich "MAGA"?


Was ist da los? Wieso müssen die USA, angeblich doch das fortschrittlichste, reichste, beste u.s.w. Land der Welt, "wieder groß gemacht" werden?

Inwiefern sind die USA plötzlich "nicht mehr groß"? Was ist aus dem "American Way of Life" geworden?


Es gab und gibt tatsächlich eine große Unzufriedenheit eines großen Teils der Bevölkerung, die von Trump ausgenutzt wurde.


Worin besteht diese Unzufriedenheit konkret?

Und wieso ist in Deutschland eine Unzufriedenheit zwar ebenfalls durchaus vorhanden, aber lange nicht in der amerikanischen Ausprägung?



Wie kam es zu einem Verfall des "American Way of Life"?


Eigentlich wurde den Europäern, auch den Deutschen, doch lange Zeit der American Way of Life als das Nonplusultra angepriesen. Bis heute werden zum Beispiel die Einkommen der US-Arbeitnehmer mit denen in Deutschland verglichen, und von einflußreichen Kreisen in Deutschland wird immer wieder behauptet, den Amerikanern gehe es im Schnitt wirtschaftlich "viel besser" als den Deutschen, und wenn man nur die deutsche Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik an das "Vorbild" der USA anpasse, würde es uns alsbald viel besser gehen. Die deutschen Steuern und Sozialabgaben werden in einen Vergleich gezogen zu den amerikanischen Verhältnissen mit ihrem "schlanken Staat".


Dabei ist ein solcher Vergleich nichts weiter als eine Milchmädchen-Rechnung, ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Man kann nicht ohne weiteres zwei Systeme mit völlig unterschiedlicher Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik miteinander vergleichen. Diese Unterschiede sind signifikant und haben für den Arbeitnehmer erhebliche Auswirkungen hinsichtlich des allgemeinen Lebensstandards und der sozialen Absicherung.
Wenn man schon die gewissen Einkommensvorteile auf die Waagschale legt, dann darf man die gewaltigen Nachteile im Bereich der sozialen Standards und der Arbeitnehmer-Rechte nicht einfach totschweigen.


Man kann zwar das mediane Haushaltseinkommen der USA (Stand 2010) mit ca. 29.000 $ pro Jahr mit dem entsprechenden deutschen Haushaltseinkommen von ca. 24.000 $ pro Jahr vergleichen und stellt einen signifikanten Unterschied fest.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mittleres_Einkommen

Ich verweise hier bewusst auf das Medianeinkommen, nicht auf das Durchschnittseinkommen. Auf den Unterschied zwischen Durchschnittseinkommen und Medianeinkommen wird weiter unten noch eingegangen. Auch den Begriff "Gini-Koeffizient" sollte man unbedingt kennen, wenn man überhaupt nur anfängt, mit Neokonservativen zu diskutieren. Dazu mehr weiter unten.


Unterschlagen wird hierbei aber, dass die US-Amerikaner dies mit erheblichen Nachteilen erkaufen müssen. Und dass nur ein eher geringer Teil der US-Amerikaner mit wirklich hohem Einkommensniveau diese Vorteile wirklich zu spüren bekommt.

Die mittleren und unteren Schichten jedoch fahren im amerikanischen Sozial- und Wirtschaftssystem nicht unbedingt besser als in Deutschland, sondern eigentlich eher schlechter, teilweise gravierend schlechter - wenn man die Gesamtsituation betrachtet.

Seit den 1980-er Jahren, verschärft seit der Finanzkrise 2008 machen sich starke Verwerfungen bemerkbar, es geht den mittleren und unteren Schichten immer mehr spürbar wirtschaftlich an den Kragen. Und das in einer Umgebung mit vergleichsweise schlechten Arbeitnehmerrechten und schlechter sozialer Absicherung.


Soziale Verwerfungen in den USA seit den 80-er Jahren

Sozialsystem und Arbeitnehmerrechte


Einen Kündigungsschutz hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse gibt es in den USA im überwiegenden Regelfall nicht. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer prinzipiell fristlos freisetzen. Umgekehrt muss aber der Arbeitnehmer, wenn er selbst kündigt, i.d.R. eine Frist von zwei Wochen beachten.

Eine Arbeitslosenversicherung besteht nur maximal für die Dauer von 6 Monaten, und das auch gedeckelt auf 1.600 $ pro Monat.

Man kann sich leicht vorstellen, was das angesichts der hohen Lebenshaltungskosten und Krankenversicherungskosten für Familien bedeuten muss. Der Arbeitnehmer verliert im Falle der Kündigung i.d.R. schlagartig seinen Krankenversicherungsschutz.

Arbeitslos zu werden, ist in den USA ein viel höheres Risiko als in Europa. Das erklärt auch den Druck, im Zuge der Not u.U. schnell auch prekäre oder benachteiligende Arbeitsverhältnisse annehmen zu müssen.


Die meisten Amerikaner haben im Schnitt zehn Urlaubstage und bekommen Geld an sechs gesetzlichen Feiertagen im Jahr – das hängt aber von der Gnade der Arbeitgeber ab. Deutsche, Dänen, Franzosen und Spanier haben im Schnitt 30 Tage Urlaubsanspruch – und nehmen auch alle 30. Die USA sind die einzige Industrienation unter den entwickelten OECD-Ländern, in der Arbeitnehmer kein gesetzliches Recht auf bezahlten Urlaub, bezahlte Krankheitstage oder Gehalt an Feiertagen haben. Fast jeder vierte arbeitende Amerikaner hat deswegen überhaupt keine bezahlten Ferien. Und diejenigen, die überhaupt anhand der Arbeitsverträge einen geringen Urlaubsanspruch hätten, verzichten oft freiwillig auf einen bedeutenden Anteil des Urlaubs.


42 Prozent der Amerikaner haben im Jahr 2014 keinen einzigen ihrer sowieso spärlichen Urlaubstage genommen, hat eine neue Studie ermittelt. Die amerikanische Reise-Nachrichtenwebsite Skift hat 1500 Amerikaner befragen lassen. Nur 15 Prozent nahmen mehr als 20 Tage. Verreist sind nur 37 Prozent während ihres Urlaubs, und ins Ausland reisten nur 13 Prozent der Menschen. Es gehört in den USA offenbar zum guten Ton, einen großen Teil des Urlaubs dem Arbeitgeber zu spenden. Wer da nicht mitziehen will, der kann sich u.U. ein Stirnrunzeln und einen Knick seiner Karriere-Aussichten einfangen.


Dasselbe gilt für Überstunden. Es gehört in den USA zumindest für diejenigen, die vorhaben, in der Karriereleiter aufzusteigen, zum guten Ton, eine hohe Menge an unbezahlten Überstunden zu leisten.


Elternzeit, d.h. bezahlte Auszeit nach Geburt eines Kindes, ist in den USA so gut wie unbekannt. Es gibt ein Recht auf 12 Wochen Mutterschutz, aber dieser ist unbezahlt.


In den USA sind Krankenversicherungen extrem teuer, auch dann, wenn der Arbeitgeber Teile der Kosten übernimmt.

Laut Studie der Henry Kaiser Family Foundation betragen die durchschnittlichen jährlichen Kosten einer individuellen amerikanischen Krankenversicherung für eine Person 6251 $ und 17 545 $ für eine vierköpfige Familie.

https://de.april-international.com/de/gesundheit-der-expats/medizinische-versorgung-den-vereinigten-staaten-und-was-es-kostet

https://www.econstor.eu/bitstream/10419/59112/1/71499166X.pdf

https://www.kff.org/report-section/ehbs-2015-section-one-cost-of-health-insurance/


Hinzu kommt ein hoher Selbstbehalt ("deductible") in Höhe von oft weit über 2000 $ im Jahr, für eine Familie gern auch einmal 9.000 $ im Jahr, unterschiedlich je nach Modell. Das bedeutet, bis zu diesem Betrag zahlt man erst einmal alles selbst, ohne dass die Versicherung einen müden Cent beisteuert. Darüber hinaus gibt es bei vielen Policen auch wieder selbst zu bezahlende Eigenanteile für die Leistungen an sich, ebenso oft eine Deckelung mit bestimmten Höchstbeträgen für komplizierte Behandlungen. Der Teufel steckt hier oft im Detail des komplexen Kleingedruckten, und oft werden die Betroffenen kalt überrascht. Die Versicherungsmodelle und Policen sind höchst unterschiedlich und unübersichtlich. Immer wieder wird hier reichlich Stoff für langwierige juristische Auseinandersetzungen geboten, die sich jahrelang hinziehen können und die viel Geld kosten. Policen mit umfangreichen Leistungen und niedrigen Selbstbehalten sind extrem teuer, das kann sich ein Durchnittsverdiener in der Regel nicht leisten. Billige Tarife bieten dagegen entsprechend schlechte, eng begrenzte Leistungen.


Vorsorgeuntersuchungen sind in vielen privaten Versicherungspolicen auch nicht mit inbegriffen, ebenso gibt es etliche Einschränkungen z.B. bei zahnärztlichen Leistungen und anderen Dingen. Bei vielen Versicherungen ist z.B. ein Allergietest nicht in der Police inbegriffen, dieser muss privat bezahlt werden und kostet dann schnell eben einmal über 1.000 $, in der Klinik auch über 2.000 $. Und wehe demjenigen oder derjenigen, die unverhofft mit einem Hubschrauber von einem Krankenhaus in ein anderes verlegt werden müssen. Der Helikopterflug ist bei vielen Policen ebenfalls nicht inklusive, und was so etwas kostet, das kann sich wohl jeder vorstellen.

Die extremen Kostensteigerungen im US-Gesundheitswesen sind ein so starkes Politikum, dass selbst die Trump-Regierung es nicht ignorieren konnte. Trump  hat dem staatlichen Medicare Programm aufgetragen, niedrigere Arzneimittelkosten mit den Herstellern auszuhandeln. Offenbar ohne nennenswerten Erfolg. Medicare konnte sich gegen das Kartell der Pharmahersteller nicht durchsetzen. Dann kam er auf die Idee, die staatlichen Zuschüsse an Versicherungsagenturen, die den ärmeren Amerikanern Zahlungsverzicht bezüglich der einfach nicht mehr zahlbaren Eigenanteile gewährt hatten, zusammenzustreichen. Mit dem Erfolg, dass die Versicherungsunternehmen daraufhin ihre Preise um bis zu 20 Prozent erhöht haben. Dann hat er angekündigt, dass er die Einkaufsagenten für Medikamente (sogenannte "Pharmacy Benefit Managers", PMB) per Verordnung dazu verdonnern wolle, die von ihnen ausgehandelten Preisvorteile bei den Verhandlungen mit den Pharmakonzernen auch tatsächlich an die Kunden weiterzugeben und sich diese nicht mehr weitgehend selbst in die Taschen zu stecken. Es blieb indes bei der frommen Ankündigung. Das unkoordinierte und letztlich weitgehend erfolglose Gehampel der Trump-Regierung in der Gesundheitspolitik am "freien Markt" ist exemplarisch für weite Teile der Politik während Trumps gesamter Amtszeit. 

https://www.thebalance.com/how-could-trump-change-health-care-in-america-4111422


Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt es in den USA entweder nicht oder nur als freiwillige, unterschiedlich ausfallende Einzeltarifvereinbarung. Nur 58 Prozent aller US-Beschäftigten haben überhaupt Anspruch auf bezahlte Krankheitstage, bei den Industriearbeitern sind es nur 36 Prozent. Die Höhe des Anspruchs ist in der Regel an die Dauer der Betriebszugehörigkeit gekoppelt. Im günstigsten Falle wird eine Lohnfortzahlung für drei Wochen gewährt, in der Regel wesentlich weniger. Typisch sind 5 bezahlte Krankheitstage im Jahr.


Wer in den USA ernsthaft und länger krank wird, hat also oft ein Problem. Nicht nur wegen des Lohnausfalls, sondern auch wegen der unweigerlich fälligen Arzt- und Klinikrechnungen und Selbstbehalten der Versicherungen. Ganz plötzlich und unerwartet kann man in den Spagat geraten, einerseits z.B. für zwei Monate kein Gehalt zu beziehen, andererseits dann auch noch den Selbstbehalt für eine Klinikrechnung in Höhe von tausenden Dollars berappen zu müssen. Dieses Geld haben die wenigsten Angehörigen der mittleren und untersten Schichten in den USA "eben mal so" auf der hohen Kante.

62 Prozent aller Privatinsolvenzen in den USA sind Folge von Krankheit und der damit verbundenen Arzt- und Klinikrechnungen. Mehr als zwei Drittel der so finanziell Ruinierten hatten, ehe sie krank wurden, geglaubt, die in Anspruch genommenen Leistungen seien durch die Versicherung abgedeckt.

Die Zahl der Privatinsolvenzen (relativ zur Zahl der Einwohner) in den USA ist sowieso vergleichsweise sehr hoch.

https://www.ifo.de/DocDL/ifosd_2006_9_2.pdf


Eine andere Quelle der hohen privaten Verschuldung der US-Amerikaner sind die Studienkredite. Der Besuch einer High School kostet pro Jahr im Schnitt schnell einmal 12.000 $. Hinzu kommen die sowieso fälligen Lebenshaltungskosten.

Im Jahre 2018 waren 44,7 Mio. Amerikaner (13,7 %) mit Studienkrediten verschuldet. Im März 2019 waren es bereits 54,8 Mio. (16,7 %).

Seit Ende der 90er Jahre sind die Studiengebühren in den USA um mehr als die Hälfte angestiegen. Gleichzeitig sind die Einstiegs-Gehälter für Absolventen deutlich gesunken.


In den USA sind die Lebenshaltungskosten hoch, besonders für Mieten/Immobilien. Die Entwicklung der Gehälter hält mit der starken Kostensteigerung nicht Schritt.

Während man in Deutschland oft mit der Faustregel gut leben kann, dass man möglichst nicht mehr als ein Drittel des Nettoeinkommens für die monatliche Miete aufwendet, ist es in den USA in den großen Städten die Regel, dass ein Drittel oder oft auch weit mehr vom Bruttoeinkommen zu zahlen ist.

Die idyllischen Zeiten der 50-er bis 70-er Jahre, als sich ein großer Teil der Amerikaner ein günstiges Eigenheim leisten konnte, sind lange vorbei, spätestens seit den 90-er Jahren.

Der Nominalindex für Immobilienpreise in den USA lag 2019 bei 135,74 Prozent gegenüber 1995. Gleichzeitig stieg das Nettoeinkommen, allerdings weniger stark: der Index lag bei 120,47 Prozent in 2018 gegenüber 1995. Hierbei muss auch gesehen werden, dass in den letzten Jahren die Mittel- und Unterschicht bei der Steigerung der Gehälter oft leer ausgingen. Im Zuge der Finanzkrise stagnierte das Medianeinkommen, erst um 2015 wurde das Niveau vor der Finanzkrise etwa wieder erreicht - aber bei weiter steigenden Lebenshaltungskosten.

Zwar sanken im Zuge des Platzens der Immobilienblase mit der Finanzkrise die Immobilienpreise in den Keller, sie haben aber bereits um 2016 herum das sehr hohe Niveau vor der Finanzkrise wieder erreicht.


Der starke Preisanstieg für Immobilien hat mehrere Ursachen. Der frühere US-Präsident Reagan hat in den 80-er Jahren die Mittel für den sozialen Wohnungsbau radikal zusammengestrichen. Durch die Verknappung billigen Wohnraums für die unteren Schichten entstand "von unten her" ein Preisdruck im Immobilienmarkt.

Mit der Jahrtausendwende entstand eine Spekulationsblase mit Immobilien, die dann ein Explodieren der Preise zur Folge hatte, und die auch ein wesentlicher Faktor für die Finanzkrise war.


Im Zuge der Finanzkrise nach 2008 haben Millionen von US-Bürgern ihre Eigenheime durch Zwangsversteigerung verloren. Es wäre mir allerdings vollkommen neu, dass auch nur einer der Betroffenen von Donald Trump sein Haus zurück erhalten hätte.

Auf die Gründe für die Finanzkrise wird später noch eingegangen.


Da in den USA eine "eviction", also eine Zwangsräumung, bei ausbleibender Mietzahlung oder bei Zwangsversteigerung von Eigenheimen sehr schnell und unerbittlich droht, gibt es in den USA eine zunehmende Zahl von Obdachlosen.

https://en.wikipedia.org/wiki/Homelessness_in_the_United_States

Allein in Los Angeles leben etwa 55 000 Menschen auf der Straße.

Nach offiziellen Regierungsangaben waren in den USA 2019 etwas mehr als eine halbe Million Menschen obdachlos und ohne einen festen Wohnsitz. Die wirklichen Zahlen sind aber viel höher, sagen zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen, insbesondere seit der Covid-19-Pandemie. Je nach Schätzung könnte die Zahl inzwischen um 1,5 Millionen betragen. Die Obdachlosen hausen in Zelten auf den Bürgersteigen, verrichten ihre Notdurft in Hauseingängen oder irgendwelchen Ecken oder auf den Rolltreppen zur U-Bahn. Das Problem ist unübersehbar und in vielen Städten der USA omnipräsent.

https://www.youtube.com/watch?v=adq1rlWFE4o


Die ansteigende soziale Ungleichheit und oft zunehmend prekäre Lage der unteren Schichten, besonders bei Afroamerikanern und Latinos, äußert sich auch in zunehmender Kriminalität. Seit den 80-er Jahren hat sich die Zahl der in den USA ständig inhaftierten Personen mehr als vervierfacht.


Senioren sind in den USA oft direkt von Armut bedroht. Viele müssen auch mit 70 Jahren noch nebenher Jobs annehmen, um halbwegs über die Runden zu kommen.

In der Vergangenheit waren Betriebsrenten eine der Hauptsäulen des US-amerikanischen Rentensystems. Spätestens seit der Finanzkrise gehen die meisten Unternehmen dazu über, keine neuen Mitarbeiter mehr in die Betriebsrentensysteme aufzunehmen sowie die ausgezahlten Leistungen auf dem jetzigen Stand einzufrieren oder auch z.T. zu kürzen.


Das staatlich garantierte Rentenniveau in den USA ist nicht sonderlich hoch, bei Durchschnittsverdienern etwa vergleichbar mit dem deutschen Niveau. Daher müssten in den USA (ähnlich wie in Deutschland) die Arbeitnehmer eigentlich privat vorsorgen, wenn sie denn mit leichten Abstrichen im Alter ihren Lebensstandard halbwegs halten wollten. Hierfür gibt es in den USA das sogenannte "401k"-System. Hierbei wird unter Beteiligung der Arbeitgeber meist in Aktienfonds eingezahlt. Kritisiert wird hierbei die Unübersichtlichkeit und Komplexität der Modelle. Vielfach werden Arbeitnehmer dazu verleitet, in riskante Anlagen ohne Streuung zu investieren oder auch Aktien des eigenen Unternehmens im Rahmen dieser Sparpläne zu erwerben. Das kann sich als Bumerang erweisen. Z.B. hatten im Falle der Enron-Pleite mit Insolvenz des Konzerns 1995 viele beteiligte Arbeitnehmer durch den Verfall der Aktie auf Cent-Niveau ihre gesamte private Altersversicherung verloren. Aber auch während der Finanzkrise um 2008/2010 herum gab es derartige Beispiele.

Angesichts der prekärer werdenden finanziellen Lage der mittleren und unteren Schichten stellt sich dann auch für viele Familien die Frage, woher noch das Geld für das Ansparen einer privaten Altersversorgung kommen soll. Viele Haushalte leben ohne nennenswerte Rücklagen von Monat zu Monat auf Kante, es reicht gerade für das Abzahlen der Immobilie und des Autokredits, und dann müssen für die Kinder teure College-Gebühren bezahlt werden.


Die Entwicklung der Medianeinkommen in den USA sieht für die Mittel- und Unterschicht ebenfalls nicht erfreulich aus.

Auch in Deutschland dünnt die Mittelschicht aus, aber vergleichsweise schwächer als in den USA.

Die Gruppe der Bezieher eines Medianeinkommens ist in Deutschland von 1991 bis 2013 um mehr als fünf Prozentpunkte auf 61 Prozent zurückgegangen. Das zeigen Berechnungen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am DIW. Damit steht Deutschland aber nicht allein, denn vergleichbare Analysen für die USA zeigen einen ebenso großen Rückgang. Bezieher mittlerer Einkommen nach der dort verwendeten Definition sind Personen in Privathaushalten, die ein Gesamteinkommen vor Steuern und Sozialabgaben von 67 bis 200 Prozent des Medians erzielen. Die Polarisierung in der Einkommensschichtung hat in den USA allerdings stärker zugenommen als in Deutschland, da sich diejenigen Personen, die aus der Einkommensmitte abwanderten, in den USA stärker auf die Ränder der Einkommensverteilung konzentrieren. Auch der Einkommensanteil, der auf die Bezieher mittlerer Einkommen entfällt, hat in beiden Ländern deutlich abgenommen.


An dieser Stelle will ich den Unterschied zwischen Medianeinkommen und Durchschnittseinkommen an einem salopp überspitzten Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir einmal an, drei Personen sitzen im Restaurant, alle essen Schnitzel. Aber sie essen unterschiedlich viel. Der erste isst 1 Schnitzel, der zweite 2 - und der dritte hat großen Hunger und isst 9 Schnitzel. Jetzt wollen wir wissen, wieviele Schnitzel "typisch im Mittel" pro Person verzehrt wurden. Wir berechnen den Durchschnitt. Insgesamt haben die drei Leute zusammen 12 Schnitzel vertilgt, also beträgt der Durchschnittswert 12 geteilt durch 3 Personen, also 4 Schnitzel.


Jetzt sagen wir zu den Personen Nummer 1 und 2: "Ach, Euch geht es aber doch verdammt gut! Ihr hattet im Schnitt jeder vier Schnitzel!" - Darauf protestieren Nummer 1 und 2 natürlich. "Nein, ich hatte nur eins! So ein Blödsinn! Was soll ich mit dem Durchschnitt anfangen!" - "Und ich nur zwei!", sagt der zweite. Und Nummer 3 schweigt und grinst genüsslich.

An dieser Stelle wird deutlich, dass ein "Durchschnitt" für sich gesehen erst einmal wenig konkret über das typische Verhalten der Esser aussagt, wenn - wie hier in dem Fall - die Spreizung zwischen niedrigem und hohem Konsum sehr hoch ist. In diesem Fall verzerrt die gefrässige Nummer 3, obwohl nicht repräsentativ, den Durchschnittswert zu seinen Gunsten künstlich nach oben.


Verwenden wir jetzt einmal eine andere statistische Darstellung - und zwar die des sogenannten "Medians". Der Median entspricht dem Wert, welcher größer oder gleich 50% aller Werte ist. Der Median betrachtet - vereinfacht gesagt - den Schwerpunkt einer Werteverteilung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Median

https://www.mathebibel.de/median

In unserem Fall erhalten wir als Medianwert den Wert für die zweite Person, nämlich 2. Im "Median" hat also der typische Esser in diesem Fall zwei Schnitzel gegessen - was der Realität wohl deutlich näher kommt. Der Medianwert mildert die Wirkung statistischer Ausreißer bei starker Spreizung der Werte.


Daher sollte man bei einer Diskussion über soziale Gerechtigkeit immer darauf bestehen, dass nicht das Durchschnittseinkommen, sondern das Medianeinkommen betrachtet wird. Die wenigen Bezieher exorbitant hoher Einkommen verzerren den Durchschnitt künstlich nach oben, während der "Median" schon eher die Verhältnisse eines typischen repräsentativen mittleren (aber eben nicht im strengen statistischen Sinne "durchschnittlichen") Bürgers widerspiegelt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mittleres_Einkommen


Daher greifen Protagonisten aus dem neoliberalen und neokonservativen Dunstkreis mit Vorliebe auf diesen Trick zurück und reiten in der Diskussion immer wieder auf dem "durchschnittlichen" Einkommen herum. Besonders interessant wird es hierbei, wenn man die statistische Entwicklung des Durchschnitts und des Medians bei den Einkommen im langjährigen Verlauf betrachtet. Hierbei sieht man dann nämlich deutlich, dass die Durchschnittseinkommen steigen, während die Medianeinkommen eher stagnieren. Betrachtet man das Durchschnittseinkommen im langjährigen Verlauf, kann man dem mäßig informierten Zeitgenossen suggerieren, dass es ihm "durchschnittlich" doch eigentlich jedes Jahr besser gehe - während er tatsächlich schleichend immer weniger in der Tasche hat. Dabei sind es nur die Wohlhabenden und Superreichen, die mehr in der Tasche haben.


In einer US-Studie wird die Entwicklung der Medianeinkommen im Zeitraum seit 1970 betrachtet. Dort ist das reale inflationsbereinigte Medianeinkommen der Mitte von 1970 bis 2000 von rund 55.000 US-Dollar um 40 Prozent auf knapp 77.000 US-Dollar gestiegen. Von 2000 bis 2014 ging indes das Medianeinkommen der Gruppe der Bezieher mittlerer Einkommen real um vier Prozent zurück.


https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.533036.de/16-18.pdf


Unbestreitbar nimmt die soziale Ungleichheit in den USA ständig zu. Ein Maß für die Ungleichheit ist der sogenannte "Gini-Koeffizient". Je höher er ist, desto stärker ist die Spreizung zwischen niedrigen prekären und exorbitant hohen Einkommen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Vermögensverteilung 

In den USA ist der Gini-Koeffizient und damit die soziale Ungleichheit im Vergleich zu anderen wirtschaftlich entwickelten Ländern sehr hoch. Und der langjährige Verlauf der Ungleichheit zeigt seit den 1980-er Jahren (zeitgleich mit der Amtseinführung Ronald Reagans) einen starken Anstieg, weit mehr als in den europäischen Ländern. Das ist auch der Grund dafür, warum ein typischer Neokonservativer den Begriff "Gini-Koeffizient" nie gehört haben will bzw. sofort mit dem Totschlag-Vorwurf des angeblichen Sozialismus ums Eck kommt und sich faktenresistent einer weiteren Diskussion verweigert.


Am unteren Ende der sozialen Skala wird die Lage zunehmend prekär. In 43 Prozent der US-Haushalte reicht das Einkommen nicht für Wohnung, Essen, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Transport und ein Handy. Im Klartext: Fast die Hälfte der Amerikaner kann sich die grundlegenden Dinge des Lebens nicht mehr leisten.

https://money.cnn.com/2018/05/17/news/economy/us-middle-class-basics-study/index.html

(a study released by the United Way ALICE Project)


Bei einer Umfrage gaben 40% der Erwachsenen US-Bürger an, eine notfallmässige Ausgabe von 400 $ nicht stemmen zu können oder sich Geld leihen oder etwas verkaufen zu müssen, um eine solche Situation zu bewältigen. Das heißt: wenn nur das Auto oder die Waschmaschine kaputt gehen, dann haben all diese Leute ganz schnell ein großes Problem.


Das alles sind Entwicklungen, die für den typischen Amerikaner spürbar und zunehmend bitter werden.

In den USA hatten im Jahr 2016 rund 40,6 Millionen Menschen, das sind etwa 12,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze.

 

Die Industriearbeiter in den USA, die sogenannten "blue collar workers", leiden unter den nachhaltigen Folgen einer Deindustrialisierung, die eine Folge der monetaristischen und marktliberalen Politik Ronald Reagans der 80-er Jahre ist, auf die weiter unten in einem der nächsten Teile des Blogs noch näher eingegangen wird. Im Bereich der Schwerindustrie sind in den USA unzählige Jobs weggefallen, ganze Landstriche und Städte sind verarmt. Viele ehemalige Arbeiter aus diesen Bereichen wurden in prekäre Jobs gezwungen, viele mussten ihre Häuser verkaufen, meistens dann zu einem Spottpreis weit unter dem Kaufpreis, und sie sitzen oft auf hohen Restschulden. Das Wegfallen vieler Industriejobs hat natürlich einen negativen Preisdruck im ganzen Lohngefüge vom unteren Ende her zur Folge gehabt. Die weitgehende Neutralisierung des Einflusses der Gewerkschafen macht sich ebenfalls bemerkbar. 


Kurzum: Mittelschicht und Unterschicht in den USA bluten aus. An vielen Stellen gleichzeitig geht es ihnen wirtschaftlich spürbar immer mehr an den Kragen, an allen Ecken werden die Daumenschrauben angelegt, ihr Lebensstandard sinkt. Und zwar so stark, dass sie nicht nur Beeinträchtigungen hinnehmen müssen, sondern dass nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv immer wieder ihre Existenz bedroht wird. In den USA wurde traditionell immer eine soziale Ungleichheit und der extreme Reichtum einiger weniger problemlos akzeptiert - solange die unteren Schichten immer noch das Gefühl hatten, dass es ihnen selbst ebenfalls langsam immer besser ging, und dass sie ihr Auskommen hatten. Etwa so wie während der Zeit der sogenannten "Great Society" der 1960-er Jahre. Das alles gerät aber zunehmend in Schieflage. Was die Amerikaner eben nicht mehr vertragen, ist, wenn sie ihren Lebensstandard oder sogar ihre Existenz bedroht sehen und sie in ständiger Angst leben müssen. Diese Angst ist nicht eingebildet, sondern sie hat eine sehr reale Basis. Die nackten Zahlen beweisen es.

Die Zahlen widersprechen auch dem ständig wiederholten neoliberalen Mantra, dass jedermann "selbst seines Glückes Schmied" sei und dass "selbst schuld" sei, wer sozial absteigt. Können die wachsenden Zahlen derjenigen, denen es sozial immer schlechter geht, wirklich alle "selbst schuld" sein?


Hieraus erklärt sich die wachsende Unzufriedenheit. An dieser Stelle wird nach einem Sündenbock gesucht. Es wird hierbei kaum gesehen, dass sie alle eigentlich Leidtragende einer vorherrschenden politischen Ideologie sind, die sich beginnend mit der Regierungszeit Ronald Reagans als den "Mainstream" beherrschende Anschauung durchgesetzt hat.


Es handelt sich um die Ideologie des Neoliberalismus, umgesetzt in der politischen Agenda des Neokonservativismus. Weiter unten wird auf die Enstehung und auf die Merkmale dieser Ideologie näher eingegangen.


Im Grunde genommen ist diese Ideologie an sich selbst bereits lang gescheitert. Dieses Scheitern wird jedoch im Mainstream unzureichend oder gar nicht erkannt, von den konservativen Medien zu einem guten Teil ignoriert und totgeschwiegen. Und die Republikanische Partei hatte es 2016 geschafft, Donald Trump - ja, ausgerechnet Trump, einen krassen Protagonisten eben dieser sozial destruktiven Ideologie - als Heilsbringer zur Rettung der amerikanischen Mittelschicht zu installieren. In einer Art "jetzt-erst-recht" Mentalität, einer Art Flucht nach vorne. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Es darf nicht sein, dass das wirtschaftsliberale Reagan-Modell gescheitert ist. Das Wolkenkuckucksheim muss nach Möglichkeit restauriert und gerettet werden. Man steigt nicht ab vom toten Gaul, sondern man gibt dem röchelnden Klepper noch einmal die Sporen und reitet mit Zuversicht hinein in die Götterdämmerung, und singt dabei: "Juuuh-Äss-Äääiih!!! Juuuh-Äss-Ääääiih!!!"

https://www.youtube.com/watch?v=vPRfP_TEQ-g


Die Sündenböcke für die Bedrohung des sozialen Friedens waren im Trumpismus schnell gefunden. Im wesentlichen sind es:


  • Die Globalisierung, insbesondere "die Chinesen", die den braven Amerikanern ihre Jobs wegnehmen

  • Die Flüchtlinge aus Mexiko und Südamerika, die ebenfalls den braven Amerikanern ihre Jobs wegnehmen und darüber hinaus Kriminalität ins Land bringen

  • Und vor allem: der sogenannte "Deep State", also ein Monsterkrake an allgegenwärtigem Staat, der die "Freiheit" der Amerikaner bedroht und der viel zu viele Steuergelder verschlingt. Das "Establishment" in Washington.


Dabei hat die neoliberale Kritik am Staat in den USA sowieso eine lange Tradition. Bereits Reagan hatte gesagt: "Der Staat ist nicht die Lösung des Problems, sondern der Staat ist das Problem." Seit dieser Zeit sitzt das Mißtrauen der Amerikaner gegen den Staat und seinen regulierenden Einfluss tief. Hinzu kommt, dass der US-Staat in den vergangenen Jahrzehnten sich ohnehin vornehmlich um die Belange der Großindustrie sowie der Superreichen gekümmert hatte. Sprichwörtlich ist in den USA z.B. die Vermengung von Staat und Rüstungsindustrie, der sogenannte "militärisch-industrielle Komplex".

https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4risch-industrieller_Komplex

Aber hat ausgerechnet Trump hieran irgendetwas geändert? - Überhaupt nicht. Im Gegenteil wurden Mittel für die Infrastruktur und bestimmte Wohlfahrtsziele weiter zusammengestrichen, um die Steuergeschenke an die Superreichen und an die Großindustrie wenigstens zum Teil gegenzufinanzieren.


Die Latinos aus Mexiko und Südamerika besetzen in den USA besonders häufig die prekären Jobs im Niedriglohnsektor, außerdem sind sie überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, besonders in der Covid-19-Pandemie. Viele illegal in die USA eingereiste Latinos arbeiten schwarz, da sie als "Illegale" keine Sozialversicherungsnummer bekommen, bleibt ihnen regelmäßig auch nichts anderes übrig. Bemerkenswert ist, dass selbst ein Bauunternehmen aus dem Trump-Konzern in den 1980-er Jahren schon einmal illegale polnische Einwanderer als billige Bauarbeiter beschäftigt hatte. Wenn es um Profite durch Dumping-Löhne geht, dann sind ihm die Einwanderer immer herzlich willkommen. Als Sündenböcke für die soziale Schieflage sowieso.

https://rp-online.de/politik/ausland/us-wahlen/marco-rubio-attackiert-donald-trump-wegen-illegaler-arbeiter-aus-polen_aid-21353723


Es gibt keinen ernsthaft diskutablen Anhaltspunkt für die Bestätigung der Behauptung, dass die Grenzmauer, die Trump gegen die Einwanderer aus Mexiko bauen ließ, irgendwelche Arbeitsplätze in den USA gesichert oder die Kriminalität gesenkt hätte.

https://www.bazonline.ch/ausland/amerika/wie-wahr-sind-trumps-aussagen/story/13783818


Weder Trumps protektionistische Schutzzoll-Politik gegen chinesische und europäische Importe noch die Steuergeschenke an die Industrie konnten der US-Industrie wesentliche Wachstumsimpulse geben, die über die Tendenz hinausgehen, die sowieso schon unter der Obama-Regierung sichtbar war. Ausschlaggebend für das langanhaltende Wachstum der US-Wirtschaft ist die Erholung aus dem Tief der Finanzkrise und die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank, die allerdings nicht unbedingt ohne Risiken daherkommt.

https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/medieninformationen/2020/bilanz-trump-konnte-us-industrie-keine-positiven-impulse-geben/

Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel schreibt:


"Im Fokus von Trumps Rhetorik und Handeln standen die Stahl- und Aluminiumindustrie, für die er 2017 Schutzzölle verhängte. Und die Automobilindustrie, für die im neu verhandelten NAFTA-Abkommen ein höherer Anteil heimischer Produktion („local content“) vorgeschrieben wurde.


In keiner der Branchen lässt sich für die Trump-Jahre ein bemerkenswerter Produktionsanstieg feststellen. In der Stahlindustrie wurde lediglich die Konjunkturdelle der Jahre 2015/16 überwunden und das Level der (Obama-) Jahre 2010 bis 2014 wieder erreicht. Das Produktionsniveau der Aluminiumindustrie und der Autoindustrie hat sich in den Trump-Jahren nicht erhöht und blieb konstant."



Die protektionistische Zollpolitik Trumps hat ebenfalls nicht zu dem propagandistisch anvisierten Ziel geführt.

Während kurzzeitig das Handelsbilanzdefizit der USA mit China etwas sank, steigt es inzwischen wieder an. Außerdem haben die Schutzzölle zu einer teilweisen Verteuerung von Produkten für Endverbraucher, aber auch von Vorprodukten für die US-Industrie geführt. Auch wurden keine neuen Arbeitsplätze in der heimischen US-Industrie in nennenswerter Zahl hierdurch geschaffen.

https://www.n-tv.de/politik/Trumps-Handelspolitik-ging-schief-article22226962.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Es wird faktenresistenten Politikern wie Donald Trump wohl nie klar werden, dass ein Herumschrauben mit protektionistischen Maßnahmen immer bestimmte unerwünschte Nebeneffekte hat. Sprichwörtlich ist die Wut, mit der Trump gegen den Motorradhersteller Harley Davidson vom Leder zog, weil der angekündigt hatte, aufgrund unangenehmer Nebeneffekte durch den Zollstreit die Produktion teilweise nach Europa verlagern zu wollen.


Insgesamt sieht es nicht wirklich so aus, als ob es Trump geschafft hätte, "Amerika wieder groß" und aus der Götterdämmerung einen strahlenden Sonnenaufgang zu machen.


Die Götterdämmerung des Neoliberalismus und des Neokonservativismus setzte im Rahmen der Finanzkrise 2008 ein. Dazu mehr in Teil 2 des Blogs.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog